Designerin Sarra Ganouchi im Interview
Sarra Ganouchi ist 41 Jahre alt, lebt in einer eigetragenen Partnerschaft, hat eine Tochter und tunesisch-schweizerische Wurzeln. Sowohl privat als auch im Beruf hat sie einen diversen Hintergrund, viele Interessen, in Grosskonzernen gearbeitet, zwei Kleinunternehmen gegründet und ist kurz vor dem ersten Lock-Down ins Unternehmen 'Reform' eingestiegen. Alle ihre Erfahrungen und Fähigkeiten kommen bei Reform zusammen – ein Studio für Strategisches Design und nachhaltige Entwicklung, welches Schweizer Firmen unterstützt, Nachhaltigkeit mit Design ganzheitlich im Unternehmen und der Marke zu verankern, um dauerhafte Wertschöpfung zu generieren. Unter anderem bietet Reform auch Trend- und Designrecherchen für Firmen an. Von der Neo-Ökologie, der Sharing Economy bis hin zu Diversity oder Circular Economy – Sarra hat einen guten Blick auf Themen, die unsere Gesellschaft beeinflussen. Sie unterstützt Firmen dabei, gesellschaftliche, ökologische wie auch wirtschaftliche Veränderungen frühzeitig zu antizipieren, um sich zukunftsfähig aufzustellen und langfristige Wettbewerbsvorteile zu gewinnen.
Wie schätzt du die aktuelle Situation bezgl. Diversität in der Schweiz ein?
Gender Diversity – wenn wir Diversität als Abbild der Gesamtheit verstehen, so liegt uns in der Schweiz nach wie vor ein langer Weg bevor. Auch bei der Diversität im Allgemeinen hinken wir enorm hinterher. Es fühlt sich nicht so an, als ob der ‘Motor’ schon laufen würde. In den Medien finden Debatten statt, auch die Sprache hat sich teilweise schon zu einer inklusiveren Sprache entwickelt – das finde ich natürlich super. In den Ballungszentren wie beispielsweise Zürich, Basel und Genf sind wir sicherlich ein gutes Stück weiter. Es gibt noch viel zu lernen und viel tun.
Die Schweiz ist in vielen Hinsichten ein Vorzeigeland. Warum hinken wir beim Thema Geschlechterdiversität hinterher?
Ich glaube, dass es neben dem Lernen von Neuem auch um Machtstrukturen geht. ‘Wir’ geben nicht gerne Macht ab. Menschen halten sich seit jeher gerne daran fest. Auch in der Schweiz gibt es nach wie vor alte Strukturen, die wir aufbrechen, neu denken und in die neue Zeit transferieren müssen. Es gilt, den Begriff Macht neu zu definieren. Was heisst Macht? Wie leben wir Macht? Wer verleiht sie uns? Wie verändert sich Leadership?
Wenn wir uns die Schweizer Tugenden wie 'Sicherheit' oder 'Fleiss' in Erinnerung rufen, wird uns bewusst, dass viele Faktoren bei der Bildung von Machtstrukturen mitwirken, die sich über die Jahrzehnte etabliert und in unserem Allgemeinbewusstsein verankert haben. Es sind komplexe Vorgänge und viele Faktoren, die bewirken, dass wir uns und unsere Strukturen nicht verändern wollen. Denn Veränderungen lösen Ängste aus.
Gerade in unserer Welt ist Wandel dringend nötig. Und da ich ein positiver, lösungsorientierter Mensch bin, sehe ich darin auch viele Chancen für die Gesellschaft. Wir können noch so viel erreichen und verändern.
Aber auch ich denke mir natürlich manchmal 'In welchem Jahrhundert leben wir eigentlich?' oder 'Wie viel braucht es noch bis Diversität endlich angekommen ist und wir Verhaltensänderungen im Alltag spüren?'. Ab und zu frage ich mich, ob ich den Tag überhaupt erleben werde, an dem Diversität in unserer Gesellschaft in all seiner Vielfalt gelebt wird?
Dann denke ich aber an die nächste(n) Generation(en) und mir wird wieder klar, dass ich meinen Beitrag leisten will und muss. Ich will Teil der Bewegung sein, die uns vorwärts bringt.
Wir können eine gesunde Diversität erreichen, davon bin ich überzeugt und dafür setze ich mich ein. Wie schaffen wir es, der Welt zu zeigen, dass unter anderem Geschlechterdiversität einen Vorteil für alle hat? Das ist für mich als Designerin eine super spannende Frage. Wir müssen den Mehrwert für alle aufzeigen, für Gemeinschaften, die Gesellschaft, Unternehmen sowie Staaten.
Ich hoffe, dass wir nun ein Momentum haben. Gerade auch, weil Geschlechterdiversität hoch auf der globalen Agenda der UN Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) steht und es so auch auf die wirtschaftliche Agenda schafft.
Was sind deiner Meinung nach die Vorteile für eine Firma, die auf Diversität setzt?
Die besten Lösungen sind meiner Meinung nach die, die von allen Beteiligten gemeinsam erarbeitet werden. Dabei spielt Diversität eine zentrale Rolle. Alle Bedürfnisse, Erfahrungen und Meinungen fliessen bei der Lösung eines Problems mit ein. Die daraus resultierenden Lösungen sind inklusiver und werden in der Breite besser akzeptiert, weil alle Bedürfnisse in der Entwicklung involviert wurden. Das ist ein klarer Benefit für Firmen. Die Lösungen sind solide und das wiederum steigert die Effizienz und spart Kosten ein. Zudem steigt die Motivation der Mitarbeitenden sowie die Loyalität zum Unternehmen.
Warum haben wir immer noch Hürden, die uns hindern echte Diversität zu leben?
Von Generation zu Generation verändert sich das Verständnis von Geschlechterrollen und Diversität. Das hängt auch stark mit dem jeweiligen Kontext und Zeitgeist zusammen. Jede Generation setzt sich aufs Neue für das Thema ein und verschiebt die Grenzen im Alltag. Das Erlernte von früher, die Werte und sozialen Normen, die man im Kopf hat, aber auch die vorgegebenen Strukturen sind meiner Meinung nach die grössten Hürden. Um all das zu überwinden, damit ein nachhaltiger Wandel stattfinden kann, braucht es Zeit und Ausdauer.
Warum zielen Frauen-Karriereprogramme meist auf erfahrene Mitarbeiterinnen ab?
Vielleicht weil es das Naheliegenste ist. Der erste Schritt ist es, mit den Frauen (und Anderen), die bereits betroffen sind, zu arbeiten und weniger mit der nächsten Generation. Das ist natürlich total schade, weil es aus langfristiger Sicht eine verpasste Chance ist. Wenn wir es mit dem Bild eines Ackers vergleichen, dann hast du auf der einen Seite die Pflanzen, die bereits erste Wurzeln geschlagen haben und erste Früchte tragen. Daneben hast du ein Fleckchen Erde, in dem erst die Samen gesät wurden aber noch keine Triebe sichtbar sind. Wo beginnst du aus ökonomischer Sicht mit der Förderung? Vermutlich da, wo die Pflanzen bereits sichtbar sind und erste Erträge zu erwarten sind. Weitsichtiger und nachhaltiger wäre es sicherlich, Förderprogramme bereits in früheren Stadien anzubieten, um auch interessierten jungen Menschen die Chance zu bieten, ihre Stärken und Persönlichkeit zu entfalten.
Was können wir konkret tun, um einen Schritt vorwärts zu kommen?
Wir müssen auf die neuen Kompetenzen setzen, wie beispielsweise Social Skills, Emotional Intelligence, Design (Thinking) und Kreativität und zudem versuchen Leuchttürme zu erschaffen, die begeistern und in der Breite wirken. Wir müssen den Nutzen von Gender Diversity besser sichtbar und messbar machen – auch in Zahlen.
Damit wir vorankommen, sollten wir den Status quo, unsere Vision der Zukunft sowie Massnahmen ausarbeiten. Dafür gibt es sehr gute Frameworks und Methoden, wie z.B. die SDGs oder das Angebot von ‘B-Corp' (Zertifizierte B-Corp-Unternehmen stehen an der Spitze einer weltweiten Bewegung von Unternehmen, die sich zum Ziel gesetzt haben die Wirtschaft als Kraft für das Gute zu nutzen. Sie erfüllen die höchsten Standards in Bezug auf soziale und ökologische Leistung, Transparenz und Verantwortlichkeit). So können wir von den Besten lernen. Was haben diese Firmen gemacht, um die Diversität zu steigern?
Also Bewusstsein für die Thematik schaffen, den Nutzen aufzeigen, Ziele festlegen und Massnahmen mit klaren Verantwortlichkeiten ableiten – das finde ich die wichtigsten Schritte.
Welchen Rat gibst du Frauen?
Bei womenmatter/s mitmachen. Ich hatte mir als junge Frau immer gewünscht, einmal ein Team zu führen. Denn Menschen zu motivieren hat mir schon immer gefallen. Da ich keinen akademischen Hintergrund hatte, bin ich aber nie in so offizielle Förderprogramme gekommen. Da waren Studienabgängerinnen immer vor mir. Mir haben solche Programme gefehlt. Programme, die Menschen fördern. Programme, die Soft Skills stärken. Ich denke, es braucht einerseits die richtigen Adressen, wo du dich hinwenden kannst und andererseits ist das Thema Vernetzung enorm wichtig. Und darum bin ich von womenmatter/s so begeistert.
Zudem baut womenmatter/s eine Brücke zwischen Studium oder Ausbildung und dem Berufsleben. Das braucht es unbedingt, weil Student:innen von Erfahrungen lernen können und man nicht alles selber durchleben muss. Das ist gleich, wie wenn wir ein Buch lesen und am Ende neues Wissen erlangt haben, ohne die Erfahrung selbst gemacht haben zu müssen. Genau so können wir von den Erfahrungen anderer lernen und profitieren – z.B. durch Mentoring- und Coaching-Angebote. Es braucht also Angebote innerhalb und ausserhalb von Firmen, die Frauen wahrnehmen können, um an sich zu arbeiten.
Was braucht es von den Männern?
Wenn alle Plätze am Tisch schon (mehrheitlich von Männern) besetzt sind, braucht es Personen, die ihren Platz für andere qualifizierte Menschen der anderen Geschlechter freigeben, damit Gender Diversity tatsächlich gelebt werden kann. Dass heisst, sie müssen ein Stück ihrer Macht ab- und ihren Platz am Tisch freigeben, sich etwas zurücknehmen, um Raum für das Neue zu schaffen. Es braucht Reflexion, mehr Altruismus, sicherlich auch Charakterstärke und ein Bewusstsein für das grosse Ganze. In meinem Umfeld in Zürich hat der Wandel im Alltag seit längerem Einzug gehalten – ich finde es ein grossartiger Wandel, der für Gleichberechtigung steht.
Und zum Abschluss: Was können wir von Männern lernen?
Ich finde, dass Frauen (und Andere) auf keinen Fall Männer imitieren sollten sondern genauso zu sich selbst stehen, wie es die Männer tun. Wir sollten in jeder Disziplin von den Besten lernen. Wie ich es wahrnehme, stehen Männer besser für sich und ihre Sache ein. Sie wirken zumindest von sich selbst überzeugt(er), was sich auch positiv auf ihr selbstbewusstes Auftreten ausschlägt. In diesem Kontext finde ich das Wort ‘selbstbewusst’ sehr interessant – sich selbst bewusst sein. Eine Stärke, die ich persönlich stark mit Frauen (und Anderen) in Verbindung bringe. Wir sind uns selbst bewusst und kennen unsere Fähigkeiten, Stärken und Schwächen. Nun gilt es, uns von unseren eigenen Gedanken sowie alten Strukturen frei zu machen, aus dem Schatten zu treten, den Platz am Tisch einzunehmen und uns mutig und weitsichtig für unsere aller Anliegen einsetzen. The time is now!
Mein letzter Gedanke führt mich zur Natur. Eine intakte Umwelt bedarf einer gesunden Biodiversität. Monokulturen funktionieren nicht. Im gesellschaftlichen wie auch unternehmerischem Kontext scheint dies nicht anders zu sein. Vielfalt ist für jedes gesunde Ökosystem lebensnotwendig. Ohne Vielfalt, kein Leben.